Zu meiner groβen Überraschung erhielt ich einen Brief von Ihr, datiert von 3. Mai 1940, den ich in den wichtigsten Punkte wiedergebe:
“Mein guter Luigi,
Es ist lange her, daβ ich Ihnen schreiben wollte … jetzt darf ich nicht mehr damit warten, Ihnen zu schreiben und Ihnen den Wunsch des Paters zu eröffnen – um so mehr, als er der Gehorsam verlangt, denn als geistige Tochter kann ihm nichts verweigern, selbst wenn es das Todesopfer wäre. Vor einigen Tagen hat er mich beauftragt, Ihnen in seinem Namen zu sagen, daβ er wünsche, daβ Luigi aus Bologna mehr lerne. Denn in den Gebeten sähe er, daβ er nicht lernt und das Schuljahr nicht bestehen wird, wenn man ihn davon nicht unterrichtet. Er sagte es mir mit Milde, es schien, als ob diese milden Worte das Leid ausdrücken wollten, das sein Herz ob dieses Mangels an Arbeitseifer verspührt. Er tat mir so leid, ich kann es gar nicht in Worte fassen.
Aber er sagte mir, er wäre glücklich über Ihre Haltung zur Kirche und daβ Sie fortfahren müβten, aber auch mit etwas mehr Inbrunst zu Jesus beten sollten, wenn Sie die Hl. Kommunion empfangen.
Mein lieber Luigi, seien Sie froh, daβ Pater Pio darauf aufmerksam macht, was Jesus von ihnen will. Armer Pater! Wie leidet er, wenn seine geistige Söhne die Versprechen, die sie ihm gemacht haben, nicht halten. Er ist dafür verantwortlich vor der Majestät Gottes. Aber wir werden es nicht tun, nicht wahr? Nein, und sicherer als meiner bin ich des lieben Luigi, der ein so gutes Gemüt hat und nicht will, daβ der liebe Pater, unser Opfer, leidet, weil wir die Prüfung nicht bestehen. Er sieht ihre Zukunft voraus und hat ihre Stellung schon festgelegt.
Ich bitte Sie, lieber Luigi, tun Sie alles, nachdem Sie diesen Brief gelesen haben, damit er auch von hier aus nicht mehr sehen muβ, womit sein Sohn Luigi ihm das Herz schwer macht und aus seinen Wunden so viel mehr Blut flieβen läβt … lege jeder von euch einen starken Willen in das, was unser lieber Heiliger Vater ausdrücklich wünscht.
Versuchen wir vereinigt, sein verbittetes Herz zu trösten, denn seines ist wirklich das von Jesus.
Ich wünsche mir … allen den Hl. Segen des Vaters.
Ihre Schwester in Jesu. Olimpia Pia Cristallini.”
Die Gebete des Paters und seine Aufforderung zum Studium halfen mir, die Technische Schule nicht zu verlassen.
Am anfang des Schuljahres 1942-43, besuchte ich das 5. Jahr des Institutes Aldini; es fehlten mir nur noch drei Jahre, um das Diplom zu erhalten.
Eines Tages, im Oktober 1942, fragte mich die Lehrerin für Literatur, Fr. Dr. Lia Ceneri: “Gaspari, warum eigentlich hast du keine Schule für klassisches Studium gewählt?” – Ich antwortete, daβ dies mein Wunsch gewesen wäre, aber daβ ich mich damit zufriedengeben müβte, das Diplom der Technischen Schule zu machen.
Die gute groβzügige Lehrerin sagte mir: “Ich bin überzeugt davon, daβ es dir gelingen wird, die Übergangsprüfung für das wissenschafliche Gymnasium zu bestehen. Während dieses Schuljahres werde ich dir Privatstunden in Latein geben.”
Fr. Ceneris Enthusiasmus und Bereitwilligkeit ermutigten mich, mich dieser Herausforderung zu stellen. Jeden Abend nach acht Stunden Arbeit am Aldini Institut, ging ich ins Hause der Lehrerin, um von Grund auf die lateinische Sprache zu lernen.
Sicher verdanke ich es den Gebeten Pater Pios, die er Gott, ohne mein Wissen, geopfert hatte, daβ mir die groβzügige Lehererin geschikt wurde und dazu der Wille zu lernen gab, den ich nicht hatte.
Im Sommer 1943 bestand ich die Prüfung und im Jahr darauf wechselte ich in das wissenschaftliche Gymnasium “Augusto Righi” in Bologna über. Ich erhielt mein Diplom als Apotheker im Jahre 1950.
Während mehr als 14 Jahren, von 1940 bis 1954, sah ich Pater Pio nicht wieder.
Im September 1954 fand ich am Dachboden zwischen Schülbüchern den Brief, der mir am 5. Mai 1940 aus San Giovanni Rotondo geschickt worden war.
Ich las nochmals mit gröβerer Aufmerksamkeit den Brief , den ich verloren geglaubt hatte und verstand mit einem Male die Bedeutung so vieler Prüfungen besser.
Mein innig geliebter Vater Augusto war am. 26 November 1953 gestorben.
Die Mutter, vom Schmerz gezeichnet und müde, brauchte mich. Ich wollte ihr helfen, die groβen Probleme, die in der Familie durch den Tod des Vaters aufgetreten waren, zu lösen. Mein Vater wollte seine neun noch lebenden Kinder immer vereinigt sehen.
Dieser starke Wunsch nach Einigkeit bewirkte, daβ unser Familienleben harmonisch verlief, solange mein Vater am leben war. Aber nach seinem Tode tauchten Zwistigkeiten auf, weil es schwierig war, im Schatten unseres Vaters, dieses liebevollen und groβzügigen Hauptes der Familie, den Interessen der neuen Familien, die meine Geschwister gegründet hatten, ein gemeinsames Ziel zu geben. Meines Vaters ständige Sorge galt der Einheit der Familie. Sein Herz, voll von Liebe und Groβzügigkeit, war unfähig, dem Problem ins Auge zu blicken, das sich stellt, wenn die verheirateten Söhne und Töchter mit ihren voneinander abweichenden Interessen einen gemeinsamen häuslichen Herd teilen.
Im Sommer 1954 beschloβ ich, mich in San Matteo della Decima niederzulassen, um mich meiner Familie zur Verfügung zu stellen und mit meiner bescheidenen Hilfe und meiner Liebe den Engel meines Hauses zu trösten.
Ich lebte nicht gerne in kleinen Dörfern und arbeitete noch weniger gerne in Mühlen; die Liebe zur Mutter und die Pflicht der Familie gegenüber lieβen mich jedoch die Anpassungsschwierigkeiten überwinden.
Die Leiden dieses Jahres machten mir den Wert des in Dachboden in Decima wiedergefundenen Briefes deutlich; ich beschloβ damals, nach San Giovanni Rotondo zurückzukehren.
2. Reise nach S. Giovanni Rotondo
Während ich mich auf die Abreise vorbereitete, wanderten meine Gedanken zu jener fernen ersten Begegnung mit Pater Pio zurück, die vor nun schon mehr als 14 Jahren staatgefunden hatte. Warum nur hatte ich während den 14 Jahren den Ruf nicht gehört, nach San Giovanni Rotondo zurückzukehren? Ich konnte mir den Grund nicht erklären.
Allein abgefahren, erreichte ich S. Giovanni Rotondo sehr aufgewühlt. Der kleine Weg, der vom Dorf zum Kloster führte, wo Pater Pio lebte, war sehr verändert. Eine neue Stadt war entstanden.
Um 5 Uhr morgens hörte ich die Messe von Pater Pio, wie viele Jahre vorher. Die Zeit hatte am Körper und im Blick des geliebten Paters Spuren des Schmerzens hinterlassen. Während der hl. Messe fühlte ich mich fast schuldig, so viele Jahre weg geblieben zu sein und wurde von einer Rührung erfaβt, der ich in einem langen Weinen Lauf lieβ. Am Ende der Messe begab ich mich mit einer Menschenmenge in die Sakristei. Der Pater ging an mir vorbei in Richtung seiner Zelle. Ich war heiter, ohne jedes Anzeichen der während der Messe gespürten Rührung. Sehr groβ war meine Überraschung, als ich Pater Pio vor mir stehen bleiben sah, mit der Sicherheit in Verhalten und Blick von jemanden, der sich in mich hineinsehen konnte, nicht in einen erwachsenen Mann, sondern in den ängstlichen Knaben von damals.
Ich zweifelte keineswegs, daβ der Pater im Mann den vierzehnjährigen Knaben Luigi erkannte. Der Zweifel war nur, ob ich noch das Recht hatte, als Sohn anerkannt zu werden.
Pater Pio, mit der Stimme eines richtigen Vaters, mit der liebenden Geste der nach dem Sohn ausgestrecken Hand, packte mich kraftvoll und sagte: “Mein Sohn, endlich bist du hier! Warum hast du geweint? du weiβt, daβ ich das Weinen nicht mag!”
Von so viel väterlicher Liebe überwältigt, steigerte sich meine Liebe für den Pater. In der Liebe Pater Pios fand ich alle Liebe meines geliebten Vaters, der in den Himmel zurückgekehrt war, in gesteigerter Form wieder.
Ich verstand später, daβ Pater Pio in seinem groβen Respeckt vor der Autorität der Eltern wollte, daβ ich in den 14 Jahren, von 1940 bis 1954, so nahe als möglich bei meinen geliebten Eltern wohne, um ihnen, in der Beachtung des Gebotes der Liebe und Verehrung von Vater und Mutter, alle meine Sohnesliebe zu geben.
Erst nach dem Tode meines Vaters vertrat ihn Pater Pio, indem er meinen Geist zur Liebe Gottes führte und zur Kenntnis der Probleme des irdischen Lebens. Ab 1954 wurden meine Reisen nach San Giovanni Rotondo zahlreicher.
***
Am 6. Juni 1956 befand ich mich in San Giovanni Rotondo. Nach der Hl. Messe sah mich Pater Pio in der Sakristei, näherte sich und sagte: “Was machst Du hier? Verliere keine Zeit, geh sofort nach Hause.” Diese Aufforderung, sofort nach Decima abzufahren, verwirrte und beunruhigte mich sehr. Ich fuhr mit dem ersten Zug nach Bologna und erreichte San Matteo am folgenden Tag. Ich fand meine liebe Mutter dem Tode nahe, aber noch ganz im Besitze ihrer Geisteskraft. Als sie mich neben ihren Bett sah, erhellte sich ihr Gesicht von unbeschreiblicher Freude und sie sagte mir: “Du bist da, Luigi! Ich habe Pater Pio so sehr gebeten, dich nach Hause zu schicken. Ich wollte dich noch einmal sehen, bevor ich sterbe. Ich bin Gott und Pater Pio dankbar, meinen Wunsch erhört zu haben. Jetzt sterbe ich zufrieden, denn ich weiβ…”.
Dann fragte mich die Mutter: “Luigi, welches Fest feiern wir morgen? Ich höre die Festglocken läuten, weiβ aber nicht was für ein Fest morgen ist.” Ich antwortete ihr, daβ die Glocken gar nicht läuteten und daβ morgen kein religiöses Fest wäre. Ich wollte mich am Kalender versichern: der 8. Juni war dem Herzen Jesu gewidmet.
Der körperliche Zustand meiner Mutter verschlimmerte sich von Stunde zu Stunde, bis sie, fast blind und ohne die Fähigkeit zu sprechen und sich im Bett aufzusetzen, Zeichen gab, daβ sie schreiben wollte. Alle Kinder waren zusammen mit dem Pfarrer von Decima, don Balestrazzi, den Ordensschwestern und einigen Freunden, der Mutter gegenwärtig. Als würde sie von übernatürlichen Kräften gespeist, gelang es Mutter, fast bis zu den letzten Augenblicken ihres Lebens zu schreiben.
Ich übertrage Teile der Gedanken, die meine Mutter während ihrer freudigen Agonie und Begegnung mit Gotte hatte.
“Meine Ende nähert sich, die Kräfte fehlen mir, aber nicht der Verstand… |